Eine Spurensuche warum es Migrant*innen nachweislich schwerer haben
Jüngst teilte Wirtschaftsminister Habeck mit ernster Miene mit, dass wir alle ärmer werden. Niemand gibt freiwillig gerne seine Logenplätze auf und korrigiert seinen Lebensstil nach unten. Aber wer ist wirklich ernsthaft betroffen, wenn die Lebensmittelpreise steigen? Die Antwort darauf ist so eindeutig, wie sie es lange nicht war, und dennoch wollen wir sie nicht sehen, weil wir zu beschäftigt sind, darüber zu diskutieren, ob das 9 Euro Ticket eine sinnvolle Idee ist, um die Bevölkerung von Tankkosten zu entlasten. Es ist dringend an der Zeit, die Debatte über Benzinpreise dem Kartellamt zu überlassen und sich den Menschen zuzuwenden, die von den steigenden Preisen wirklich betroffen sind und Angst haben. Es ist dringend an der Zeit, über Armut zu sprechen.
Wenn man über ein sensibles Thema wie Armut spricht, dann ist es wichtig, sich bewusst zu machen, wie weitreichend seine Dimensionen sind. Die aktuellsten Zahlen dazu stammen aus dem Jahre 2021 vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. In der Studie wird angegeben, dass nur knapp die Hälfte der Deutschen ihr Einkommen als gerecht empfindet. Dass der deutsche Staat sich für einen Abbau der Einkommensunterschiede einsetzen soll, finden sogar über 70%.
Doch arm bedeutet nicht gleich arm.
Armut betrifft keine Minderheit in der Bevölkerung
Wenn man einen genaueren Blick auf Deutschland wirft, dann finden wir hier bereits in der aktuellsten Statistik von 2019 einen Bevölkerungsanteil von 16%, der von relativer Armut betroffen ist. Von relativer Armut sind laut Definition der Europäischen Kommission die Personen betroffen, die über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.
In Deutschland reden wir von der staatlich festgelegten Armutsgrenze von 60% des mittleren Einkommens. Konkret heißt das für einen Einpersonenhaushalt, dass 1074,- Euro im Monat zur Verfügung stehen. Ob dieses Einkommen genügend Freiheit schenkt, dass Menschen eine Chance haben, ihrer Armut zu entkommen, wird hierbei einmal außen vor gelassen.
Armut betrifft keine Minderheit in der Bevölkerung. Aber wenn man sich näher mit dem Thema Armut beschäftigt, dann wird schnell klar, dass Minderheiten eher von Armut betroffen sind.
Während es zwischen West- und Ostdeutschland keine Unterschiede gibt, stechen Alleinerziehende mit einem Armutsrisiko von 41% klar hervor. Dicht dahinter finden wir Menschen mit einem Hauptschulabschluss ohne Berufsabschluss mit 35% und Menschen mit direktem Migrationshintergrund mit 29% Armutsrisiko.
Die moderne Wissenschaft hat ein Wort, um ein solches gesellschaftliches Problem einzuordnen und im Ganzen betrachten zu können: Armut ist intersektionell, es ist kein Problem, was man nur in bestimmten Gruppen wiederfindet.
Faktoren und Erfahrungen, die Armut begünstigen, haben mehrere Eigenschaften. Zum Einen wirken sie für sich einschränkend für die betroffene Person. Das bedeutet vereinfacht gesagt, dass sie das eigenständige Ausbrechen aus der Armut erschweren. Zum anderen kann man nachweisen, dass armutsbegünstigende Faktoren sich potenzieren.
Mit anderen Worten: Je mehr soziokulturelle Charakteristika des Randes der Gesellschaft man in sich vereint, desto mehr Kraft braucht man, um sich aus seinem Umfeld zu befreien.
Intersektionalität beschreibt genau das: Soziale Kategorien lassen sich nicht voneinander getrennt betrachten. Wenn verschiedene Erfahrungen von Diskriminierungen aufgrund von soziokulturellen Charakteristika zusammentreffen, wirkt der gesellschaftliche Druck am größten auf die betroffene Person.
Es gibt Armut begünstigende Faktoren, die sich weitervererben und auch den nächsten Generationen einen nachweislich schwereren Ausweg aus der Armut bieten:
Armut bei Migrant*innen
Das Armutsrisiko von Menschen mit Migrationshintergrund ist mehr als doppelt so groß wie das von Menschen ohne Migrationshintergrund. Statistisch gesehen haben Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund das höchste Risiko, von Armut betroffen zu sein.
Aber warum ist das so? Wir haben uns für die Antwort auf diese Frage auf eine Geschichtsstunde eingelassen und ein Gespräch mit Metin Kaya geführt. Er ist Migrationsbeauftragter des Landesvorstandes der Linken-Fraktion in Hamburg. Mit 11 Jahren holte sein Vater ihn und seine Mutter aus der Türkei nach Deutschland, um dort ein neues Leben zu beginnen.
Beginnen wir also mit einem kurzen Überblick: Das Herkunftsland mit dem größten Migrationsanteil in Deutschland ist die Türkei. In Deutschland leben rund 12% der Menschen mit türkischem Hintergrund, was auf das deutsch-türkische Anwerbeabkommen aus 1961 zurückzuführen ist.
Das Anwerbeabkommen war angedacht als Chance, die deutsche Wirtschaft im Zuge des Wirtschaftswunders mit Arbeitskräften zu versorgen. Diese sichere Ausgangslage stellte eine Möglichkeit für Gastarbeiter mit geringem Bildungsabschluss dar, um in der florierenden Wirtschaftslage einfach Geld verdienen zu können.
Doch wenig der Gastarbeiter*innen kamen damals mit der Intention nach Deutschland, sich hier nachhaltig ansiedeln zu wollen. Eher lag der Fokus darauf, ein paar Jahre hart zu arbeiten, Geld zu verdienen und wieder zurück in die Heimat zu kehren.
Im Zuge dieser Gewinnmaximierung wurden auch Ehepartner und Kinder dazu motiviert, nach Deutschland zu kommen, um sich später ein gutes Leben in der Türkei aufbauen zu können.
Aber es kam anders. Die Gastarbeiter blieben und es wurde sowohl von der deutschen Regierung als auch von den Gastarbeiter*innen selbst verpasst, die Sprache oder einen Beruf zu erlernen. Die Einteilung der Schüler*innen in spezielle Gastarbeiterklassen erschwerte einen reibungsfreien Bildungsweg. Die Folge waren niedrige Bildungsabschlüsse und die Chance, sich integrieren zu können, wurde entsprechend stark erschwert.
Diese verpasste Integrationspolitik ist der Motor, der die Armut der Migrant*innen vorantreibt.
Möglichkeiten zur Bekämpfung von migrantischer Armut
Eines der wichtigsten Angebote gegen Armutsbekämpfung sind laut Metin Kaya die Möglichkeit von Beratungsangeboten als auch die Enttabuisierung der psychologischen Betreuungen. Denn bei türkischen Migrant*innen sind psychologische Behandlungen noch stark stigmatisiert und werden häufig nicht angenommen. Was jedoch vielen Migrant*innen nicht bewusst ist, ist, dass der von Armut erzeugte Stress krank machen kann, weshalb die Wahrnehmung von solchen psychologischen Betreuungen essentiell wichtig für die Gesundheit einer Minderheit ist.
Er schlägt außerdem vor, Sprechstundentermine z.B. in Jobcentern an einem Tag oder zwei Tagen in der Woche auf türkisch anzubieten, um Berührungspunkte zu schaffen und die ohnehin schon komplexe Bürokratie in Deutschland für Migrantinnen und Migranten zu vereinfachen.
Es geht hierbei um eine Annäherung beider Kulturen und den Einsatz der Politik, initiativ tätig zu werden, zum Beispiel durch die Einführung eines Landesantidiskriminierungsgesetzes für staatliche Institutionen, wie es das bereits in Berlin gibt.
Metin Kaya setzt seine Hoffnung in die Eigeninitiative der 3. und 4. Generation der Gastarbeiter, die es als besonders erstrebenswert erachten, eine gute berufliche Qualifizierung zu erhalten, zu studieren oder auch die Gesellschaft aktiv mitzugestalten.
Man ist sich bewusst, dass es Zeit bedarf, doch sieht man auch deutlichen Handlungsbedarf.
Armut bedeutet aufzustehen füreinander, denn sie ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die es gemeinsam anzupacken gilt.
Beitragsbild: Pixels, lalesh aldarwish