Armutsrisiko in Hamburg: Warum Frauen besonders betroffen sind

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Dr. Stephanie Rose im Interview

Fachsprecherin für Diversity, Wissenschaftspolitik und Soziales DIE LINKE

“Frauen werden schon anders sozialisiert. Das fängt schon im Mutterleib an.”

Frauen sind im Vergleich zu Männern überproportional einem hohem Armutsrisiko betroffen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales “Armuts- und Reichtumsbericht”; Mikrozensus 2019) , ganz besonders gilt das für ältere Frauen und alleinerziehende Mütter. Um mehr über strukturelle Ursachen und mögliche Perspektiven hierfür zu erfahren, haben wir mit Dr. Stephanie Rose gesprochen. Sie ist sozialpolitische und wissenschaftliche Sprecherin der Linken in Hamburg und selber Mutter von zwei Kindern. Grundlage des Interviews ist eine Studie der Universität Bremen im Auftrag der Linken zum Thema wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit mit Hintergrund auf die Pandemie aus dem Jahr 2021.
Das Armutsrisiko ist bei Frauen größer als bei Männern, bei Frauen sind es 16,6% und bei Männern 15,4 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales “Armut und Reichtumsbericht”;  Mikrozensus 2019). Können Sie darauf eingehen, woran das liegt? 
Das Risiko für Altersarmut ergibt sich in der  Regel in der Erwerbsbiographie  der Menschen. Frauen sind per se öfter schon in Jobs, die schlechter bezahlt sind, gerade im sozialen Bereich wie Erzieher und Pflege. Dann arbeiten Frauen überwiegend auf Teilzeit oder unterbrechen ihre Erwerbsbiographie, um Kinder großzuziehen oder Eltern zu pflegen. Dies führt wiederum dazu, dass die Karriere und Aufstiegschancen sinken. Genau das sind die zwei großen Faktoren. Hinzu kommt der Dritte: das auch in denselben Jobs, wenn man genau dieselbe Tätigkeit hat, Frauen deutlich weniger als Männer verdienen. Und da haben wir sogar in Hamburg noch einen größeren Unterschied als Bundesweit. 
Im Jahr 2020 waren es 21% weniger, die Frauen in derselben Tätigkeit verdienen als Männer. Und im Bundesdurchschnitt sind es “nur” 18%.
Sie haben schon die Arbeitswelt angesprochen, wo gibt es weitere Benachteiligungsstrukturen wo diese Ungleichheit auch sichtbar wird? 
Was da mit reinspielt ist die Ungleich-Verteilung von Care Arbeit. Alles was vor allem Kindererziehung und Pflege von älteren Personen im Privaten betrifft – das machen eben weit überwiegend Frauen. Und das führt einfach wieder zu Reaktionen auf die Erwerbsarbeit. 
Zum einen sind Frauen doppelt belastet. Man erkennt, dass Frauen, die das machen, deutlicher und stärker unter Stress und psychischen Erkrankungen leiden. Aber, dass sie dann auch in der Erwerbswelt reduzieren müssen um das irgendwie leisten zu können. 
Wir haben bereits die Ungleichheit in den Löhnen angeschnitten- was sind überhaupt die Gründe für einen Gender Pay Gap? 
Frauen werden schon anders sozialisiert. Das fängt schon im Mutterleib an, sagt man. Mütter reden und interagieren anders mit ihrem ungeborenen Töchtern als Söhnen. Und das setzt sich fort in der Kita. 
Ich habe selbst eine Tochter und sie will nur Lila anziehen, das kommt sicher nicht von mir, sondern das ist einfach so. Es wird auf allen Ebenen eben sozialisiert und geprägt und das lässt sich gar nicht verhindern. Selbst wenn man kritische Eltern ist und sagt “Wir wollen das nicht”. Es ist einfach in der Gesellschaft so verankert, dass das eben trägt, und dadurch entscheidet sich, die Berufswahl natürlich. Was kann man sich überhaupt vorstellen für Tätigkeiten? 
Und das andere ist auch, dass seine Verhandlungsposition auch dadurch geprägt wird. Dann nutzen die Unternehmen das natürlich auch aus. Ich kenne einige persönlich, denen gesagt wurde “Denselben Lohn können wir Ihnen nicht zahlen, weil Sie  Anfang 30 sind. Sie kriegen jetzt bald ein Kind. Das lohnt sich für uns nicht”.  Das ist unglaublich, dass Arbeitgeber sich auch noch trauen, das zu sagen aber es ist eben eine Realität. 
Frauen machen diese Erfahrung obwohl das Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen seit Juli 2017 gilt. Alle Arbeitgebenden in Deutschland sind verpflichtet, beim Lohn nicht zu diskriminieren und geschlechtsbezogene Diskriminierung zu beseitigen. 
Um nochmal Familien Strukturen aufzugreifen— besonders schwierig ist es deutlich für alleinerziehende Mütter. Diese haben nämlich ein Armutsrisiko von 42,7% (Bundesministerium für Arbeit und Soziales “Armuts- und Reichtumsbericht”; Mikrozensus 2019). Warum ist der Unterschied innerhalb von Familien Strukturen denn so groß? Warum haben alleinerziehende Mütter es “so schwer”? 
Wir haben in der Sozialpolitik ganz lange Jahre die Förderung gehabt davon, dass eigentlich die Idee war der Mann geht arbeiten, die Frau bleibt zu Hause. Auch das konnten sich, als es das Idealbild war, nicht viele Leute leisten, aber das war eben das Bild, an dem sich die ganze Politik orientiert hat. Wir haben davon heute noch dieses Ehegattensplitting zum Beispiel, indem eben eine Lohn Ungleichheit zwischen EhepartnerInnen eigentlich gefördert wird.
Beim Ehegatt*innensplitting werden die Steuern für ein verheiratetes Paar neu berechnet und geteilt. Dies soll für Paare vorteilhaft sein, da man tendenziell weniger Steuern zahlen muss. Hiervon profitiert man besonders, wenn zwischen den Partner*innen ein großer Unterschied im Lohn besteht, wobei Frauen oftmals weniger verdienen.
Also es ist gar nicht vorteilhaft, wenn man gut verdient als Frau, sondern eigentlich ist eben vorteilhaft für die Familie, wenn es da einen großen Lohn unterschied gibt. Und zu diesem Modell wurde irgendwann gesagt “Das wollen wir nicht mehr”. Sowohl politisch wollte, man das nicht mehr, weil man Frauenerwerbstätigkeit wollte und es konnten sich immer weniger Leute leisten, weil die Löhne gesunken sind. Dieser Familien-Ernährer-Lohn war so nicht mehr gegeben. 
Heute sagt man eigentlich wollen beide gerne Vollzeit arbeiten. 
In Deutschland gehen unter den arbeitenden Vätern nur 7% in Teilzeit. Aufgrund von familiären oder persönlichen Verantwortungsbereichen, die oft noch im Frauenbild verankert sind, sind es unter den arbeitenden Müttern 72% (Statistisches Bundesamt; Mikrozensus 2019).  
Aber die Strukturen sind in Deutschland nicht hinterhergekommen. Es gibt zwar mehr Kinderbetreuung, aber nicht in dem Maße, dass man wirklich beruhigt in Vollzeit arbeiten gehen kann. Dasselbe bei der Pflege. Wir haben natürlich eine Aufstockung von Pflegeplätzen. Wir haben eine Pflegeversicherung dazu bekommen, aber es ist auch immer noch nicht die Qualität und die Quantität, dass die Leute entspannt sagen “Ok, ich bringe meine Eltern ins Pflegeheim” und hat dabei ein gutes Gefühl und geht Vollzeit arbeiten. Sondern viele sagen dann eben “Ich reduziere lieber und kümmere mich.” 
Da sehen wir in anderen Ländern, dass es schon ganz anders ist. In Skandinavien zum Beispiel gibt es ein ganz anderes Angebot an Betreuung. Und es gibt eine kurze Vollzeit für alle, so dass es wirklich möglich ist, arbeiten zu gehen und Kinder zu haben. Das ist in Deutschland nicht so, dass man individuelle Lösungen findet.
Häufig ist es in einer Partnerschaft so, dass einer reduziert oder man versucht, sich ab zu wechseln. Wenn man Alleinerziehend ist gibt es die Möglichkeiten nicht, und dann ist es eben tatsächlich schwierig, dem Arbeitgeber so zur Verfügung zu stehen, wie der das verlangt. Dann führt es oft dazu, dass dann nur Teilzeit gearbeitet wird oder das eben gar keine Stelle gefunden wird, wo das kompatibel ist. Oft findet es noch keine Akzeptanz bei uns.
Gibt es denn trotzdem Möglichkeiten, vor allem für Mütter, Beruf und Familie zu vereinen und die Balance zu finden? Wird da vom Staat  irgendetwas getan, gerade in letzten Jahren? 
Es gibt schon auf jeden Fall einen deutlichen Ausbau der Kinderbetreuung. Man hat auch gesehen, ohne geht es einfach gar nicht. Es gibt jetzt auch einen Kita-Anspruch, den man zumindest ab drei Jahren hat, weil es in Hamburg nicht einfach ist einen Platz zu finden. Gerade für jüngere Kinder ist es fast unmöglich, einen Platz zu bekommen. Also auch ich gebe meine Tochter nicht den ganzen Tag in die Kita, weil ich das bei der Qualität schwierig fände, sondern versuche dann eben anders Lösungen zu finden, und da könnte noch viel gemacht werden. 
Und ansonsten natürlich Flexibilisierung in der Arbeitswelt. Zum Beispiel könnte die Stadt Vorbild sein dabei, dass man sagt Home Office, so hat es sich jetzt auch in der Pandemie Zeit gezeigt, ist eine gute Möglichkeit. Auch, dass Väter mehr Familientätigkeiten übernehmen, wenn sie nicht täglich zehn Stunden unterwegs sind, sondern von Zuhause arbeiten, zwischendurch dort mal was machen können, eher da sind und auch eine Sicht haben, für das was zu Hause eigentlich anfällt. 
Also auch da gibt es Ausbaumöglichkeiten. Es gibt gerade auch in der Stadt Hamburg im öffentlichen Dienst viele, die sich beschweren und sagen, “Es wäre doch so gut möglich. Ich könnte einfach von zuhause arbeiten, warum erlaubt ihr das nicht?”. Dort könnte man noch ganz viel entgegenkommen.
Wie könnten wir diese Grundsätzlichen Stereotypen in der Berufs- und Ausbildungswahl minimieren und gegen dieses Bild von Care Berufen als eine “Frauenbranche” angehen?
Es ist uns so ganz Grundlegend auferlegt und deswegen braucht es vor allem ganz viel Aufklärung. Sowohl von den Menschen, die eben unsere Kinder erziehen, also Erzieher*innen, Lehrer*innen müssen alle geschult werden. Wir können uns glaube ich, nicht ganz davon befreien, aber es würde schon reichen, wenn wir reflektieren, dass wir solche Rollenbilder in uns haben. Das wäre der erste Schritt. Auch in der Schule und im Studium muss es einfach zwingend Thema sein. 
Und das muss eigentlich auch immer mitgedacht werden, wenn Politik gemacht wird. In Hamburg gibt es das zumindest im Haushaltsplan, “Gender Budgeting” heißt das, dass jede Maßnahme daraufhin untersucht wird, inwieweit sie sich eben auf Geschlechterungleichheit auswirkt. 
Aber da haben wir, und nicht nur wir, kritisiert, dass das jetzt zwar in Hamburg gemacht werden soll, es aber total unsystematisch ist. Also es gibt da im Haushalt, so ein paar Kennzahlen, wie Frauenanteil bei Student*innen. Aber das ist total unsystematisch und da fordern wir zum Beispiel, dass man da nochmal mit Expert*innen überlegt, was müssten Kennzahlen sein, damit wir das eben wirklich sinnvoll machen und, dass wirklich jeder Schritt, den man macht immer auch daraufhin angeguckt wird.
Haben Sie einen persönlichen Schwerpunkt, bei dem Sie denken, das ist der Punkt, wo die Politik jetzt auch wirklich anfangen müsste, was zu tun? 
Das was mich besonders umtreibt, ist diese Umverteilung von Care Arbeit. Das ist natürlich so ein großes Dickschiff, wo man in Hamburg nicht so furchtbar viel machen kann, also das ist tatsächlich schon eher auf Bundesebene oder etwas wo man Mehrheiten dafür schaffen muss, dass wir anders leben wollen. 
Was in Hamburg konkret mir am Herzen liegt, ist schon tatsächlich die Gleichstellung in der Arbeitswelt und da kann man ganz viel machen. Wir hatten jetzt eine Anfrage zu den Hochschulen, für die bin ich auch als wissenschaftliche Sprecherin zuständig, und da ist rausgekommen, dass sie gar nicht mal die gesetzlichen Vorgaben erfüllen. Also sie müssten eigentlich Gleichstellungspläne und -richtlinien haben und Großteil der Hochschulen hat das nicht. Und das ist seit über sieben Jahren der Fall, haben wir da jetzt gehört, und da müsste die Stadt als Aufsicht eigentlich sagen, “Hier, das ist das Recht. Wir wollen Gleichstellung!” Und dafür, haben wir gesagt, braucht es diese Gleichstellungspläne und ihr habt die jetzt zu erfüllen. Aber da duckt sich die Stadt weg. 
Wir setzen uns auch als Linke für ein Landesantidiskriminierungsgesetz ein. Das heißt, dass eben nicht nur Gleichstellung Thema ist, sondern auch andere Diskriminierungsformen, und das ist eben Anlaufstellen gibt, gerade wenn man in Bezug auf die Stadtebene Diskriminierung erfährt. 
Dann könnte die Stadt, das haben wir vor kurzem ganz konkret gefordert, bei allen Vergaben, die sie macht, also alles, was sie an Aufträgen ausgibt, wo sie mit Unternehmen kooperiert, könnte sie sagen “Wir machen das mit euch, nur dann, wenn ihr Entgeltgleichheit garantiert ist.” Das wäre halt eine ganz konkrete Möglichkeit, um das bei den Hamburger Unternehmen voranzutreiben. 
Würden sie sagen, es geht derzeit in die richtige Richtung? 
Da bin ich mir nicht so sicher leider, also das ist das was wir mit dieser Studie auch nochmal gesehen haben. Die Corona-Pandemie hat die Lage verschlechtert, also einen ganz, ganz großen Roll Back bei Gleichstellung.
 
Es werden zwar immer wieder neue Maßnahmen ergriffen, um der Frauenarmut strukturell entgegenzuwirken, es bleibt aber weiterhin eine große Herausforderung, die Probleme effektiv zu beheben und Frauen zu unterstützen. Einige wichtige Themen werden dabei zwar sichtbarer und mehr diskutiert, große Veränderungen in unseren gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen fehlen aber nach wie vor. Im Hintergrund dessen bleibt Aufklärungsarbeit über diese sozialen und wirtschaftlichen Missstände sehr wichtig, genauso wie Forderungen an die Politik und die Stadt, die sich direkt gegen die patriarchalen Strukturen wenden, die sie geschaffen haben.
 

Die Studie der Universität Bremen im Auftrag der Fraktion DIE LINKE: Böhme, René (2021): Soziale Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Freien und Hansestadt Hamburg. Im Auftrag der Fraktion DIE LINKE. Universität Bremen.