Konzept Schule – Wo Armut spürbar wird

You are currently viewing Konzept Schule – Wo Armut spürbar wird

„Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf.
Diese Situation begrenzt, beschämt und bestimmt das Leben von Kindern und Jugendlichen- heute und mit Blick auf ihre Zukunft.“ 
(Factsheet „Kinderarmut in Deutschland“, Bertelsmann-Stiftung, Juli 2020)

In kaum einem anderen Land bestimmt die soziale Lage eines Kindes so sehr seine Bildungsbeteiligung und Bildungschancen wie in Deutschland. 
Von 100 Kindern mit Armutserfahrung setzen nur zwölf ihren Bildungsweg auf dem Gymnasium fort. 
(Deutsches PISA-Konsortium, 2001 und Langzeitstudie des Frankfurter Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik) 

Doch nicht nur der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der schulischen Bildung im Ganzen ist kritisch zu betrachten, sondern auch das Konzept der Schule an sich.

Bereits zu Anfang ihrer Schullaufbahn kommen die ersten Herausforderungen auf die jungen Schüler und deren Familien zu.
Sie sind nun Teil eines in sich geschlossenen Systems. 
Klassenfahrten, Mensa-Essen und Büchergeld, sind nur kleine Teile des Schullebens, können jedoch ganze Existenzen in Frage stellen. 
Und das nicht nur finanziell. 
Auch wenn die Schule die Gemeinschaft der Kinder und Jugendlichen betonen möchte, macht sie häufig die Ungleichheit für einige Schüler*Innen mit prekären Lebensumständen erst richtig spürbar.

Aus Gemeinschaft entsteht im schlimmsten Fall Ausgrenzung und Scham bis hin zu psychischer und physischer Gewalt.

Armut wird in der Schule wortwörtlich spürbar.

Um dieser These weiter auf den Grund zu gehen haben wir uns mit zwei Lehrerinnen unterhalten, die uns einen Einblick in die Realität des Schulalltages geben konnten.

Frau Peters, Sie sind Lehrbeauftragte an einer städtischen Gemeinschaftsgrundschule in Nordrhein-Westfalen. Inwieweit würden Sie die Schülerschaft als wirkliche „Gemeinschaft“ beschreiben? 
  • Es ist natürlich erstmal Ziel der Grundschule, diese Gemeinschaft überhaupt aufzubauen, da diese selbstverständlich nicht automatisch da ist. Man versucht dann über kooperative Aufgaben und Spiele, eben diesen Kontakt herzustellen. Dabei merkt man jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Kindern. Manche sind von Zuhause aus so erzogen, dass sie ein tolerantes Weltbild haben. Sie sind schon mal mit der Tatsache in Berührung gekommen, dass es Menschen mit anderen Hautfarben, Beeinträchtigungen, oder eben auch aus anderen sozialen Schichten gibt. Bei anderen trifft man wiederum auf vollkommende Unwissenheit, was häufig zu Verunsicherung führt.
    Bei vermehrt intoleranten und unsicheren Kindern ist es natürlich schwieriger eine richtige Gemeinschaft aufzubauen, da man bei diesen Schülern eigentlich nochmal ganz von vorne anfangen muss.
Sehen Sie Unterschiede in der Toleranzbereitschaft der Schüler*Innen, gerade gegenüber sozial-schwächeren Kindern, im Verlauf der Grundschule? 
  • Ich würde da wirklich eine deutliche Linie zwischen den ersten Klassen und den Letzten ziehen.
    In der ersten Klasse sind alle noch sehr tolerant. Die Kinder gehen sehr unbefangen miteinander um. Da gibt es meistens noch keine blöden Sprüche oder so etwas. 
    Man kann jedoch einen klaren Unterschied von der ersten und zweiten Klasse zur Dritten und Vierten beobachten. In der vierten Klasse ist es deutlich, dass Kinder, die nicht in die Norm passen oder nicht die neusten Sachen haben, häufig gar nicht mehr ins Spiel einbezogen werden, was in der ersten Klasse noch selbstverständlich ist.
    Spätestens in der vierten Klasse merkt man dann auch, dass es viel leistungsorientierter wird. 
    Zum ersten Mal kommen Noten ins Spiel, das spielt sicherlich auch eine Rolle. 
    In den ersten beiden Jahren werden ausschließlich beschreibende Zeugnisse ausgehändigt, was das Vergleichspotential einfach viel geringer macht.
Oft wird die Frage des Bewusstseins in den Raum gestellt: Wann merkt eine heranwachsende Person Ihrer Meinung nach, dass ihre finanziellen Lebensumstände nicht der Norm entsprechen?
  • Auch in der dritten, vierten Klasse eher. 
    In der ersten zwei Jahren ist es auch noch egal, ob die Turnschuhe zwei oder drei Streifen haben, was sich dann aber schlagartig ändert. Die älteren Kinder entwickeln ein Verständnis für Preise und Wertigkeit und können das mit Kleidungsstücken oder ähnlichem in Verbindung setzen. Da kommt oft der Spruch „Der hat jetzt aber nur die billigen [Schuhe] an.” Auch bei Klassenfahrten ist das zu beobachten, ob die Mama die Fahrt jetzt bezahlt oder ob das Geld vom Amt kommt, ist den Kleinen egal.
    Bei den Älteren ist Sozialhilfe dann schon oft mit Scham behaftet und kriegt auch mehr Aufmerksamkeit von den anderen Kindern.

“Armut birgt ein sehr großes Scham-Potential, auch bei Grundschülern.”

Wie viel Gewichtung hat ihrer Meinung nach die soziale Herkunft der Kinder im Hinblick auf Ausgrenzung und Benachteiligung in der Grundschule?
  • Armut ist ein Faktor von Vielen, der Ausgrenzung und Mobbing deutlich häufiger macht.
    Es gibt Kinder, die kommen aus sozial schwachen Familien und können sich Sachen wie Mensa-Essen oder die neusten Sneaker nicht leisten, haben aber in ihrem sozialen Verhalten andere positive Merkmale, die die Kinder dann auch sehen und dann ist das akzeptabel.
    Wenn jedoch mehrere Aspekte zusammenkommen, wie asoziales Verhalten und dann noch Armut, dann kippt es irgendwann.
    Das kann dann auch immense Ausmaße haben. 
Haben Sie eine derartige Situation, wo der soziale Hintergrund als ein Anlass für Mobbing gesehen wurde, schonmal selbst erlebt?
  • Es gibt immer mal wieder das Mitschüler tuscheln, kichern oder blöde Sprüche loswerden, wenn sich ein bestimmter Schüler im Unterricht zu Wort meldet. Das versuchen ich jedoch immer sofort zu unterdrücken. Die für mich schockierendste Situation war, als sich in einer meiner Klassen rumgesprochen hatte, dass ein bestimmter Mitschüler, mit einem schwächeren sozialen Hintergrund, wohl unangenehm riechen würde und dazu auch noch unfair beim Spiel wäre. Wenn dieser Schüler den Raum betreten hat, haben alle sich die Nase zu gehalten. Ich glaube die meisten haben gar nicht in Gänze verstanden, wie sehr sie ihren Mitschüler damit beschämen und verletzen. Daran merkt man das Mobbing kein bewusstes Mittel sein muss, um jemanden psychisch zu verletzen und trotzdem würde ich diese Situation ganz deutlich als Mobbing einschätzen.
Sehen Sie Möglichkeiten, wie Grundschulen mit solch einem Verhalten präventiv umgehen können, um einen Weg zu mehr Toleranz und Gemeinschaft in der Zukunft der Kinder zu ebnen?
  • Ich glaube Aufklärung und individuelle Erlebnisse sind die einzigen Mittel, um eine Art Prävention zu bewirken. Die Kinder müssen erkennen, dass Diversität etwas Alltägliches ist. Das passiert in einigen Regionen automatisch durch den erlebten Alltag, in anderen jedoch fast überhaupt nicht. 
    In Klassen, wo Ärztekinder auf Kinder aus Familien die Sozialhilfe beziehen, treffen ist das gemeinsame Erleben ausschlaggebend für die Gemeinschaft und Toleranz in der Klasse.
    Dabei darf man jedoch nicht vergessen oder verleumden, dass unterschiedliche soziale Herkünfte Konfliktpotential mit sich bringen.
    Ich kenne viele Kolleg*Innen, die behaupten, dass gerade an ihrer Schule so etwas wie Ausgrenzung oder Mobbing erst gar nicht gibt. Das finde ich ehrlich gesagt sehr beschämend, da jeder der mal in diesem Kosmos unterwegs war, weiß dass es so etwas sehr wohl an deutschen Schulen gibt. […]”

“Manchmal habe ich den Eindruck wir haben eine Art Wegschau-Kultur entwickelt, die das Problem noch viel größer macht als es ohnehin schon ist.”

Vier Jahre geht ein Kind in Deutschland regulär zur Grundschule. 
Mobbing und Ausgrenzung scheinen nur leider auch schon in diesem frühen Stadium ihrer Bildung ein relevantes Thema zu sein.
Nun nimmt jedoch die Individuelle Laufbahn jedes Kindes weiter seinen Lauf. 
Eine neue Schule öffnet nun ihre Türen für die Schüler und wartet mit neuen Herausforderungen auf sie.

Ein Schulwechsel bedeutet aber viel mehr als nur eine neue Schule, es bedeutet auch einen Wechsel des sozialen Umfeldes. 

Aber inwieweit wird dieses Umfeld von der Wahl der Schulart beeinflusst?

Haupt-, Realschule oder Gymnasium. 
Die meisten Kinder werden im Alter von neun bis elf bereits „sortiert“.
Kriterium dafür ist der Bildungsstand des Kindes, jedoch sind meisten noch viele andere Aspekte entscheidungsrelevant.  

Grundschullehrer*Innen sind dazu verpflichtet jeder/m Schülerin und Schüler eine Empfehlung, als Orientierungshilfe mitzuteilen.
Seit 2012 ist diese in fast allen Bundesländern wirklich nur noch das, eine Empfehlung, denn viele Eltern treffen die eigentliche Entscheidung für den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder eigenständig.  

Ein weiterer Aspekt: Bildung ist Ländersache.

Während Frau Peters als Grundschullehrerin aus NRW berichtet, dass sie durchschnittlich nur ein Drittel ihrer Klasse eine Gymnasialempfehlung ausstellt, erfahren wir im folgenden Interview, dass sich in Baden-Württemberg bemerkenswert viele Eltern für das Gymnasium entscheiden.

Im Schuljahr 2021/22 gab es insgesamt fast dreihunderttausend Anmeldungen für die höchste Schulform. 
Zum Vergleich wurde die Hauptschule nur rund fünfundvierzigtausend Mal gewählt. 

Damit ist Baden-Württemberg auf dem zweiten Platz der meisten Gymnasial Schüler*Innen, hinter Bayern. (statistik-bw). 

Mögliche Begründung dafür könnte das überdurchschnittlich starke soziale Umfeld der Kinder sein.  

Wie erfahren also Jugendliche den Schulalltag, die ihren Mitschülern finanziell “unterlegen sind” – bekommt die soziale Herkunft eine noch prekärere Rolle auf dem Gymnasium? 

Dazu haben wir uns mit Frau Müller unterhalten.
Sie unterrichtet seit knapp 20 Jahren an einem katholischen Privat-Gymnasium im Schwarzwald. Davor unterrichtete sie an einem öffentlichen Gymnasium im ländlichen Raum. 

Frau Müller, haben Sie einen Unterschied zwischen der Schülerschaft an privaten und öffentlichen Schulen feststellen können? 
  •  Das Verhältnis zu den Schüler*innen, die ich an einer privat-katholischen Schule unterrichtet habe, war prinzipiell enger und vertrauter, was aber eher mit dem Grundkonzept dieser Schule zusammenhängen mag. Entscheidender ist wahrscheinlich, ob die Schüler*innen eher aus dem ländlichen Raum sind oder eher in der Stadt aufwachsen. Die Schüler*innen, die aus umliegenden Dörfern kommen, sind meist bescheidener. 
Inwiefern bescheidener? Wie äußert sich das denn, ob Schüler*innen aus (nicht) wohlhabenden Familien stammen? 
  •  Das ist schwierig zu beantworten. Man sieht den Schüler*innen natürlich an, ob sie z.B. Markenklamotten tragen oder nicht und oft unterschiedliche Sachen tragen. Aber auch Schüler*innen aus nicht so reichen Elternhäusern tragen ja mittlerweile Marken unterschiedlicher Art. Eher merkt man den Schüler*innen an, ob sie aus gebildeten Elternhäusern kommen oder nicht; dass Bildung und Reichtum bzw. ein gutes Einkommen in Zusammenhang stehen, ist natürlich nicht von der Hand zu weisen.  In diesem Zusammenhang muss man sich auch die Frage stellen, wie der Begriff „reich“ definiert wird. 
Im Gespräch mit einer Grundschullehrerin wurden Beobachtungen über das Verhalten von Kindern, im Hinblick auf Markenklamotten geäußert. Wer da finanziell nicht mithalten konnte, wurde geärgert oder von der Gruppe ausgeschlossen. Zieht sich das auch noch durch die weiterführende Schule und denken Sie eine Schuluniform wäre eine Lösung? 
  • Das wird ja immer wieder diskutiert. Allerdings habe ich auf dem Gymnasium selten bzw. nie mitbekommen, dass Schüler*innen wegen ihrer Kleidung gemobbt oder ausgeschlossen worden sind. Zugleich muss bedacht werden, dass die Schüler*innen ja auch in ihrer Freizeit dann „normale“ Kleidung tragen, woran evtl. erkennbar ist, wie viel Geld für Kleidung ausgegeben wird. 
    Daher erachte ich es nicht für notwendig, eine Schuluniform in Deutschland einzuführen. 
Lässt sich denn, unabhängig von materiellen Merkmalen eine bestimmte Verhaltensweise bei Extremen von Schüler*innen öfter beobachten? 
  •  Auch das ist eher schwierig zu beantworten, weil die Schüler*innen so unterschiedlich sind. Klar ist, dass Eltern, die mehr Geld haben, ihre Kinder natürlich mehr fördern können, indem sie es sich z.B. leisten können, Nachhilfe für ihre Kinder in Anspruch zu nehmen. Wobei aufgrund von Corona seit diesem Schuljahr auch Fördermittel vom Land zur Verfügung gestellt werden, um alle schwächeren Schüler*innen zu fördern. D.h. auch diejenigen, die sich das nicht unbedingt leisten können, können durch diese Förderung Nachhilfe in Anspruch nehmen. Dass sich die reichen Schüler*innen anders verhalten, kann ich so nicht sagen. Zumal es – wie oben schon erwähnt – auch schwierig zu beurteilen ist, wer überhaupt reich ist und wer nicht. Klar, wenn man weiß, welche Berufe die Eltern ausüben, kann man sich das vielleicht herleiten.  
Denken Sie, dass es vielleicht deswegen so schwierig ist, weil sich „arme“ Schüler für ihre finanzielle Lage schämen und dies deswegen zu verstecken versuchen? 
  • Scham spielt hier mit Sicherheit eine große Rolle, leider. Eine Sache, die mir hier einfällt, ist das Thema „Landschulheim“. Nicht jede Familie kann sich das einfach leisten. Wir als Lehrer*Innen wissen das natürlich, daher erinnern meine Kollegen und Ich unsere Schüler*innen vor der Zahlung daran, dass sie sich gerne unter vier Augen bei uns melden können und wir das dann gemeinsam hinbekommen und möglich machen. Es gibt tatsächlich in jeder Klasse mindestens eine Person, die dann auf mich zukommt. Man merkt schnell wie unangenehm es dem*der Betroffenen ist und wie viel Überwindung es ihn*sie kosten musste. Trotzdem muss man auch bedenken, dass ich an einem Gymnasium lehre; Kolleg*Innen an Real- und Hauptschulen erfahren definitiv häufiger Konfrontationen mit Schüler*Innen aus gehaltsschwachen Haushalten. 
Würden Sie dann sagen, dass der finanzielle Hintergrund Einzelner maßgeblich ist für die Bildungslaufbahn? 
  •  Tatsächlich ja. Es wird früh separiert. Auf das Gymnasium kommt bereits ein Großteil der Kinder, deren Eltern vermutlich selbst hohe Bildung genossen haben und ihren Kindern so unter die Arme greifen konnten. Es bleibt ja auch nicht bei Kostenpunkten wie Mensa, Bücher und Exkursionen, nach dem Abitur wollen die meisten Schüler*innen studieren…ohne finanzielle Unterstützung von zu Hause ist das je nachdem gar nicht möglich. Natürlich gehen viele Schüler*innen dann selbst auf Nebenjobsuche, um mithalten zu können – dafür fehlt diese Zeit später natürlich, um zu lernen. Es ist schon ein kleiner Teufelskreis, aus dem man nur schwer rauskommt. 

“Bildung ist eben noch ein Privileg, dass man sich leisten können muss.”

Aus Gründen des Datenschutzes, wurden die Namen beider unserer Interviewpartnerinnen geändert. 
Das Interview mit Frau Peters wurde von Lea Schaefers am 16.05.2022 geführt und aufgenommen. 
Das Interview mit Frau Müller wurde von Amelie Kaufeisen am 18.05.2022 geführt und aufgenommen.