von Emily Kietsch und Nina Nevermann
Angesichts der Coronakrise seien alle gleich, behauptete Bundespräsident Frank Walter Steinmeier zu Beginn der Pandemie im April 2020. Demnach treffe das Virus keine Unterscheidung zwischen Geschlecht, Herkunft und Bildungsgrad, es mache keinen Unterschied zwischen Vermögen. Nach nunmehr zwei Jahren der Pandemie würde wohl kaum jemand diese Aussage noch treffen, mitnichten Steinmeier. Es hat sich gezeigt, das Virus macht durchaus einen Unterschied. Schließlich unterschied es zwischen jenen, die egal, wie hoch die Inzidenz kletterte, hinter den Supermarktkassen saßen, in den Krankenhäusern arbeiteten, das Essen auslieferten, und jenen, die aus Dank dafür von den Balkonen aus dem Homeoffice klatschten. Nicht zuletzt machte es einen Unterschied zwischen jenen, die die Quarantäne-Zeit in der Stadtvilla mit Garten und Pool verbrachten und jenen, die zu sechst in einer zu beengten 3-Zimmer-Wohnung ohne Balkon aufeinander hockten. Vor allem vor jenen, die in Armut oder prekären Verhältnissen leben, machte das Virus nicht Halt.
Zwei Jahre später wird die Welt von einer weiteren Krise eingeholt: Infolge des Krieges in der Ukraine haben sich Inflation und Preissteigerungen massiv verschärft. In Deutschland verzeichnete das Statistische Bundesamt für Mai 2022 eine Inflation von 7,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat – ein neuer Höchststand seit 1981. Lieferstopps von russischem Öl und Gas sowie von in der Ukraine angebauten und produzierten Lebensmitteln, darunter Weizen und Raps, führen dazu, dass Grundnahrungsmittel teurer werden. Die Preise erhöhen sich mitunter um zweistellige Prozentwerte.
Die Verteuerung des alltäglichen Lebens bekommen vornehmlich all jene zu spüren, die bereits durch die Coronakrise gezeichnet wurden: Menschen im Niedriglohnsektor, Sozialhilfeempfänger*innen, Alleinerziehende, Rentner*innen mit Grundsicherung, Arbeitslose und wohnungslose Menschen, weiß der Hamburger Sozialwissenschaftler Gerd Pohl. Dagegen beschränke die extreme Inflation reiche Menschen bisweilen gar nicht. „Das obere ein Prozent wird von der aktuellen Situation kaum getroffen, da es genügend Geld zur Verfügung hat. Tatsächlich ist es aber sehr wahrscheinlich, dass sich der Wert ihrer Grundstücke, Immobilien und Aktien sogar noch steigert und ihr Vermögen somit wächst“, so Pohl weiter.
Ein Blick auf die Zahlen lässt erkennen, dass reiche Menschen von Krisen meist sogar profitieren. So zeigt ein Bericht der Hilfsorganisation Oxfam von Anfang diesen Jahres, dass allein die zehn reichsten Personen in Deutschland ihr kumuliertes Vermögen in der Coronakrise von 144 Milliarden auf 257 Milliarden US-Dollar steigern konnten, was einem Anstieg von 78 Prozent entspricht. Dies sei ungefähr die Summe des Gesamtvermögens der ärmsten 40 Prozent in Deutschland, stellt Oxfam gegenüber. Seit Beginn der Coronakrise zähle Deutschland indes 633.000 Millionär*innen mehr, wie aus dem Global Wealth Report 2021 der Schweizer Bank Credit Suisse hervorgeht. Dieser Millionärszuwachs katapultiere Deutschland im weltweiten Länderranking demnach auf Platz vier – mit insgesamt 2,95 Millionen dort lebenden Millionär*innen. Derweil erreicht die Armutsquote 2020 laut Paritätischen Wohlfahrtsverband mit 16,1 Prozent einen neuen Höchststand, etwa 13,4 Millionen Menschen leben entsprechend in Armut.
Massive Preissteigerungen treffen in Armut Lebende besonders stark
Diese Kluft dürfte hinsichtlich der jüngsten Preissteigerungen weiter aufreißen. Während die einen sich überlegen, wie sie ihr Vermögen in Inflationszeiten strategisch am besten anlegen, stehen die anderen stundenlang bei den Tafeln an für die Lebensmittel, die durch die massiven Preissteigerungen für sie unbezahlbar werden: Nudeln, frisches Obst, Brot. Am vorderen Ende der Essensausgabe angekommen, müssen sie dann damit rechnen, dass diese Produkte leider aus sind: Ein besorgniserregender Trend, der sich mit der Inflation deutlich verstärkt hat, wie die Tafel Anfang März mitteilte. Demnach erhielt die Essensausgabe weniger Lebensmittelspenden, zugleich sei die Nachfrage stark gewachsen. Von Armut Betroffene können „sich die gestiegenen Energie- und Lebensmittelkosten nicht mehr leisten“, heißt es von Seiten der Tafel.
Vor allem die explodierenden Energiekosten alarmieren Betroffene. Dem Vergleichsportal Verivox zufolge schnellten allein die Gaspreise um mehr als 40 Prozent in die Höhe. Sozialverbände und Arbeitslosenzentren mahnen, der Betrag für Strom in den Grundsicherungsregelsätzen liege deutlich unter den tatsächlich anfallenden Stromkosten, wodurch Sozialhilfeempfänger*innen vermehrt Strom- und Gassperren ausgesetzt seien. Weil diese die erhöhten Jahresenergieabrechnungen nicht bezahlen könnten, würden Behörden deswegen oft formale Verfahren wegen vorgeblichen oder tatsächlich überhöhten Verbrauchs einleiten: “Im Raum steht der Vorwurf des sogenannten ‚unwirtschaftlichen‘ Verhaltens“, erklärt Helga Röller vom Frankfurter Arbeitslosenzentrum.
Um insbesondere den hohen Kosten für Energie, aber auch beim Autofahren oder im Supermarkt Abhilfe zu schaffen, hat der Bundestag Mitte Mai für finanzielle Entlastungspakete gestimmt. Darin enthalten ist neben einer einmaligen Energiepreispauschale von 300 Euro für Erwerbstätige, dreimonatigen Spritpreissenkungen und einem einmaligen sogenannten Kinderbonus von 100 Euro pro Kind auch eine Einmalzahlung von 200 Euro für Bezieher*innen der Grundsicherung. Bei Wohlfahrtsverbänden stehen diese Entlastungspakete jedoch in der Kritik. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, bezeichnet die Entlastungen gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland als ‚unzureichend‘, während der Paritätische und die Arbeiterwohlfahrt AWO bemängeln, das Geld würde mit der Gießkanne verteilt werden. “Das gesamte Maßnahmenbündel lässt weder eine Bedarfs- noch eine Einkommensorientierung erkennen, geschweige denn eine sozialökologische Ausrichtung,” so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Die Zahlungen würden zu breit ausgeschüttet, anstatt die Hilfen auf diejenigen zu konzentrieren, die sie aktuell am dringendsten benötigten, also Geringverdienende und Empfänger*innen von Sozialleistungen.
Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stellt in einem aktuellen Bericht fest, dass ärmere Haushalte trotz der Entlastungspakete immer noch stärker belastet werden als reichere Haushalte. „Die Entlastungspakete fangen mittelfristig nur einen Teil der Kosten auf. Es gibt also weiteren Handlungsbedarf für die Politik, wenn die hohen Energiepreise wie zu erwarten anhalten werden. Künftige Entlastungspakete sollten stärker auf die Geringverdienenden konzentriert werden, insbesondere über höhere Sozialleistungen“, sagt Stefan Bach vom DIW. Verdoppelten sich etwa die Heizkosten, drohten Menschen im Niedriglohnsektor Einkommensverluste von durchschnittlich mindestens drei Prozent, heißt es im Bericht weiter. Dass Sozialleistungen angepasst werden müssten, fordern Sozialverbände schon länger. Zwar wurden die HartzIV-Regelsätze zum Jahresbeginn angehoben, das allerdings lediglich um 0,7 Prozent – um ganze drei Euro. Die Erhöhung sei „weit hinter den tatsächlichen Kostensteigerungen zurückgeblieben,“ sagt Jürgen Schneider von der Nationalen Armutskonferenz. Laut Berechnungen von Sozialverbänden hätte der Regelsatz auch schon vor der Coronakrise und der starken Inflation um 160 Euro höher ausfallen müssen, so Schneider weiter. Dem Paritätischen Wohlstandsverband Hamburg zufolge komme die Erhöhung der HartzIV-Bezüge angesichts der aktuellen Preisentwicklung sogar einer Kürzung gleich.
Soziale Ungleichheit ist ein strukturelles Problem
Die krisenbehaftete Gesamtsituation ist wohl auch der Grund, warum 40 Prozent der Befragten einer McKinsey-Umfrage aus dem Mai 2022 die Inflation als ihre aktuell größte Sorge bezeichnen. Damit liegt sie noch vor der allgemeinen Beunruhigung rund um die Invasion der Ukraine (34 Prozent) und weit vor der Coronapandemie, wegen der 8 Prozent der Befragten noch immer am meisten bangen. Fragt man Personen mit geringem Einkommen, was ihnen die größte Sorgen bereitet, beantwortete demnach sogar jede zweite Person (49 Prozent), dass ihr die Inflation am meisten zu schaffen macht.
Der Politologe und Sozialforscher Christoph Butterwegge warnt schon lange vor der klaffenden Reichtumsungleichheit in der Gesellschaft, die mit der Coronapandemie und den jüngsten Preissteigerungen ins Extrem getrieben wird. In Anlehnung an das im März beschlossene Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro forderte Butterwegge stattdessen ein ebenso hohes Budget zur Armutsbekämpfung. „Ich würde mir ein Sondervermögen wünschen, um die sozialen Probleme, Spaltungen und Spannungen zu bewältigen“, sagt Butterwegge gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Das Geld fände bessere Verwendung, wenn es zur Bekämpfung von Kinder- und Altersarmut, von Wohnungs- und Obdachlosigkeit sowie Verbesserung der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur eingesetzt werden würde.
Dafür plädiert auch der Sozialwissenschaftler Gerd Pohl, der im Gespräch fordert, ähnlich zu den 100 Milliarden für die Rüstung einen Sonderfond für Sozialausgaben einzurichten. Auf die Frage, woher das Geld dafür genommen werden solle, hat Gerd Pohl schnell eine Antwort: „Es muss eine Umverteilung geben, die sich zugunsten der von Armut Betroffenen auswirkt. Dafür bräuchte es neben einer Vermögensabgabe vor allem eine Vermögenssteuer, die aktuell auf Eis liegt. Es gäbe aber auch noch andere steuerliche Möglichkeiten zur Umverteilung, allen voran eine effektive Besteuerung von Erbschaften, aber auch die Erhöhung der Kapitalertragsteuer sowie der Einkommenssteuer.“
Wenngleich die aktuelle Inflation zwar irgendwann endet, bedeutet das keineswegs das Ende der prekären Umstände der in Armut Lebenden. “Die jetzige Armut ist ein strukturelles Problem. Selbst wenn die jetzige Inflation zurück geht, dann ist nicht wieder ‚alles normal‘“, ist Pohl sich sicher. Ohne effektive Mechanismen zur Umverteilung von Vermögen breche die Schere zwischen Arm und Reich endgültig auseinander. Schließlich hat das DIW schon vor Längerem bewiesen: In Deutschland besitzen die 45 reichsten Familien so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung.
Bild: © Eduardo Soares/unsplash