„Nichts auf der Welt ist gratis“: Über den Zusammenhang von Migration und Sozialhilfe 

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Ein Interview mit der Sozialarbeiterin im Bezirk Altona Cemile Gülabi zum Thema Sozialhilfe mit einem Fokus auf Migration.

Aine Clifford und Seoyoung Kim

Können Sie sich und Ihre Arbeit kurz vorstellen?

Ich bin Sozialarbeiterin und habe vielseitige Aufgaben wie z.B. Einbürgerungs- und Familienhilfe oder gesundheitliche Unterstützung. Insbesondere bei Migrant*innen ist Familienhilfe erforderlich, da die Weltansichten sich oft von den Deutschen unterscheiden. Die Eltern haben meist andere Formen der Erziehung kennengelernt und müssen sich erst anpassen. Das gilt zum Beispiel, in manchen Familien, wenn die Tochter plötzlich in die Schule gehen soll. Für einige ist das unvorstellbar, da sie eine ganz andere Frauenrolle kennen. Wir helfen also unter anderem die hier herrschenden Weltansichten zu normalisieren. Mein Alltag sieht aber eigentlich immer anders aus. Ich begleite die Menschen beispielsweise bei ihren Arztbesuchen. Das Ziel ist es die Menschen aus einer Isolation zu helfen, sie vernünftig einzubürgern in dem ihr soziales Umfeld gestärkt wird und sie auf ihre eigenen Rechte aufmerksam zu machen.

Mit was für Menschen arbeiten Sie?

Größtenteils mit Menschen mit psychischen Störungen und Behinderungen, vor allem mit Menschen die mit Depressionen zu kämpfen haben. Dazu gehören Migranten sowohl als Deutsche. Es sind alles Menschen, die von der Gesellschaft in irgendeiner Art und Weise verlassen wurden und nun auf sich allein gestellt sind. 

Welchen Einfluss hat Armut auf die mentale Gesundheit eines Menschen?

Armut stellt eine zusätzliche Last dar. Es besteht bereits ein innerlicher Kampf der Hilfe benötigt, allerdings ist es für die Menschen nicht möglich, diese Hilfe zu bekommen, zumindest nicht ohne Geld. Nichts auf der Welt ist gratis. Die Menschen müssen lernen sich selbst zu helfen. Dazu gehören auch die simplen Dinge im Alltag, wie zum Beispiel das Kochen. Wir haben beispielsweise ein Projekt gestartet, eine Art Kochkurs, der wöchentlich stattfindet. Mittlerweile ist es eine Gruppe von ca. 20 Personen, mit den unterschiedlichsten Hintergründen. Sie kommen zusammen zum Kochen, um zu lernen, wie man sich möglichst gesund für wenig Geld ernähren kann. Die Wahrheit ist aber, dass es über das eigentliche Kochen weit hinaus geht. Mittlerweile ist eine warme Atmosphäre entstanden. Die Teilnehmer gehen liebevoll miteinander um, und sorgen sich, wenn mal einer fehlt. Es ist erstaunlich zu sehen, da auch Teilnehmer mit fehlenden Deutschkenntnissen Wege finden miteinander zu kommunizieren. Sie versuchen untereinander Übersetzungen zu finden und reden frei miteinander ohne jegliche Ängste oder Unsicherheiten. Es ist schön zu sehen, wie sich untereinander echte Bindungen formen. Dieses Outlet ist natürlich sehr wichtig für ihre mentale Gesundheit, da so ein Zusammenkommen und ein Gefühl von Zugehörigkeit für viele im Alltag fehlt. Dinge wie die Freizeitgestaltung sind gerade bei Menschen mit gesundheitlichen Problemen besonders wichtig, gehen bei Armut aber komplett verloren. Es ist nicht möglich für sie, sich mal eben mit ein*er Freund*in auf einen Kaffee zu treffen oder ins Restaurant zu gehen. Sie müssen also andere Wege finden einen Austausch zu ermöglichen. Das soziale Leben wird einfach erschwert. Armut stellt eine doppelte Belastung dar und verstärkt die Probleme eben nochmal. 

Inwiefern brauchen Migranten die gerade erst in Deutschland angekommen sind in Armut zusätzliche Unterstützung? 

Sie brauchen doppelt so viel Hilfe. Zuerst müssen sie sich an einen fremden Ort anpassen, das System und ihre Form kennenlernen, sich kulturell integrieren. Sie brauchen Unterstützung, um erst einmal auf eigenen Beinen stehen zu können. Es ist am allerwichtigsten, schnell die Sprache zu lernen. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass es besonders am Anfang wichtig ist, dies zu tun. Viele Menschen kommen nach Deutschland mit gar nichts. Sie brauchen offensichtlich Unterstützung bei der Arbeits- und Wohnungssuche, aber auch jemanden, dem sie vertrauen können. Viele haben Traumata, ein vertrauter Ort muss geschaffen werden. Zu Beginn ist noch alles unbekannt, das stellt eine große Belastung dar. Viele lassen außer Acht, wie beängstigend allein die ganzen Behörden auf die Menschen sind. Dies wird jetzt noch einmal gestärkt: durch die Pandemie verläuft vieles Online, das kennen die Menschen so gar nicht.

Mit welchen Herausforderungen werden Sie bei Ihrer Arbeit konfrontiert?

Die größte Herausforderung ist es eine Brücke zwischen zwei Kulturen, zu bauen. Man muss einen Mittelpunkt finden zwischen dem Bekannten aus der eigenen Kultur und der noch unbekannten Deutschen Kultur. Die Menschen müssen vernünftig ankommen und das rechtzeitig, denn wir haben einen gewissen Zeitdruck. Aber wenn es doch funktioniert, ist es so ein schönes Erlebnis. Zu sehen, wie die Integration erfolgreich war in den unterschiedlichsten Lebensaspekten, bringt echte Glücksgefühle bei mir hervor. Es motiviert extrem und stärkt meine eigenen Fähigkeiten, für zukünftige Fälle. Außerdem lerne auch ich immer dazu. Meine eigene Empathie und Akzeptanz für andere Kulturen wachsen immer mehr.

Gab es einen Fall der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

So gut wie alles eigentlich. Es gab zum Beispiel ein junges Mädchen, das zwangsverheiratet nach Deutschland kam. Wie die meisten auch, hatte sie nie die Schule besucht. Nach einer Weile ist die Ehe irgendwann gescheitert und sie stand allein da. Mittlerweile hat sie ihr Leben komplett ändern können. Sie ist nun selbständig geworden, hat ihre eigene Familie gegründet, Deutsch gelernt, ihr Trauma durchgearbeitet und ihre eigenen Grenzen auf dem Weg kennengelernt. Sie ist mir wirklich in Erinnerung geblieben.

Wie stehen Sie zu der aktuellen Unterstützung für Armut seitens des Staats? 

 Vergleicht man es mit einigen anderen Ländern, bietet der Staat schon sehr viel Unterstützung: die Wohnung wird finanziert, es gibt eine gewisse Lebensabsicherung, gesundheitliche Unterstützung, auch das Finden von Arbeit wird ermöglicht. Allerdings muss man sagen, das vieles nur in der Theorie möglich ist und in der Praxis ganz anders aussieht. Oft wird viel mehr Unterstützung benötigt als angeboten wird. Manchmal brauchen Menschen etwas extra Hilfe. Vor allem wenn es um bürokratische Angelegenheiten geht. Für die Menschen ist die Bürokratie wirklich die größte Herausforderung. Durch die fehlenden Sprachkenntnisse brauchen die Menschen extra Empathie von den Mitarbeitern, welche einfach nicht geboten wird. Dies gilt vor allem auch dann, wenn die Menschen tatsächlich einen Job finden. Viele haben Angst einen solchen überhaupt anzufangen. Es ist beängstigend genug, doch es besteht auch die zusätzliche Angst diesen wieder zu verlieren und erneut mit der Bürokratie kämpfen zu müssen.

Bildquelle: https://sg-md.org/ueber-uns/soziale-arbeit/