Laut der Shell Jugend-Studie aus dem Jahr 2021, ist es für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern nur halb so wahrscheinlich, das Abitur zu erreichen (39%) wie für Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern (81%). Doch, wie entstehen diese Disparitäten und was kann dagegen getan werden? Mit dieser Thematik beschäftigt sich Eric Vaccaro vom Amt für Bildung täglich. Vaccaro leitet das Referat „Steigerung der Bildungschancen“. Dieses hat sich zur Aufgabe gemacht, Maßnahmen zu initiieren und zu koordinieren, um vor allem Schüler:innen aus sozialschwachen Haushalten die Chance zu bieten, mit Hilfe von Bildung, einen Weg aus der Armut zu finden.
Während in Hamburg-Blankenese alle Schüler:innen die Schule mit einem Abschluss verlassen, liegt die Zahl der Schulabbrecher:innen in Hamburg-Veddel bei zwölf Prozent. Genau hier wird laut Vaccaro die Herausforderung des Hamburger Bildungssystems deutlich: „Wir sind eine große, dicht besiedelte Stadt. Die Schülerschaft ist extrem heterogen, wir haben sehr viele Schüler mit sehr vielen verschiedenen Hintergründen. Das ist ein prägendes Merkmal. Diesen unterschiedlichen Schüler:innen eine Bildung zu bieten, die für alle „fair“ ist, so etwas wie eine „one fits all“ Lösung zu finden, ist schwierig“.
Um diese Unterschiede im Bildungsstand der Schüler:innen in den einzelnen Stadtteilen besser einordnen zu können, wird in Hamburg alle zwei Jahre der sogenannte KERMIT-Test durchgeführt. Die Schüler:innen werden dabei in den Kernfächern Deutsch, Mathe und später auch in einer Fremdsprache getestet. Folglich wird jede Schule basierend auf einem Sozialindex zwischen 1 bis 6 eingestuft. Ein Wert von 6 zeugt dabei von sehr guten Sozialbedingungen, wohingegen der Sozialindex von 1 von einer hohen Arbeitslosenquote beziehungsweise einer allgemein hohen Armut geprägt ist. „Recht erfreulich ist zu sehen, dass die Leistungen in Hamburg sich immer weiter verbessern. Allerdings ist es so, dass wenn wir uns konkret die Unterschiede innerhalb der Stadt anschauen, deutlich wird, dass es sich in einigen Gebieten, beispielsweise in Osdorf, gar nicht verbessert“, zieht Eric Vaccaro den Vergleich.
Die Gründe hierfür lassen sich in mehreren Ursachen finden: Rein auf die Intelligenz der Kinder komme es laut Vaccaro nicht an. „Wenn man sich nur auf die Intelligenz der Kinder bezieht, müsste es sich relativ gleichmäßig über die Stadt verteilen. Das tut es allerdings nicht. Da müssen wir uns als Bildungssystem fragen, welche Faktoren da reinspielen.“
Diese Faktoren beeinflussen die schulischen Leistungen der Kinder
Einer dieser Faktoren ist die Elternunterstützung. Viele Eltern aus sozialschwachen Familien haben selbst eine Distanz gegenüber der Schule entwickelt. Dadurch fehlt ihnen oftmals der Einblick in den schulischen Alltag ihrer Kinder. Folglich setzen sie sich weniger mit der schulischen Entwicklung ihres Kindes auseinander. Auch die Lernbedingungen haben einen großen Einfluss auf die schulische Leistung der Kinder und Jugendlichen. Dabei macht es einen erheblichen Unterschied, ob die Kinder ihre Hausaufgabe in einem ruhigen Lernumfeld erledigen können oder ob sie sich beispielsweise mit ihren Geschwistern ein Zimmer teilen müssen. Dazu kommt auch, dass viele einkommens- beziehungsweise sozialschwache Familien, Familien mit Migrationshintergrund sind. Da kommt das Thema Sprache ins Spiel: Wird zuhause darauf geachtet, dass die Kinder nicht nur ihre Muttersprache sprechen, sondern auch auf Deutsch kommunizieren, wirkt sich das positiv auf ihr Verständnis und ihre Aussprache aus.
Besonders deutlich wird der Kontrast auch im Punkt Freizeitgestaltung. „Familien mit einem gesicherten Einkommen haben die Möglichkeit, ihren Kindern mehr Freizeitaktivitäten anzubieten, welche einen Ausgleich zum Schulalltag bilden. Beispielsweise Sportangebote, Museumsbesuche, Bücher und vieles mehr. Dies sind natürlich wichtige außerschulische Bildungsorte, die Kindern aus einkommensschwächeren Familie aus finanziellen Gründen oftmals nicht zur Verfügung stehen“, erklärt Vaccaro.
Auch hier wird der Schwerpunkt seiner Arbeit nochmals deutlich: Seine alltägliche Herausforderung besteht darin, Maßnahmen zu initiieren, die vielen Schüler:innen gleichzeitig helfen. „Wir bieten eine riesige Bandbreite an Projekte und Hilfestellungen an. Das Angebot der Hilfeleistungen ist stark vom Sozialindex abhängig: Schulen mit einem niedrigen Sozialindex von 1 und 2 bekommen natürlich deutlich mehr Hilfe durch uns – beispielsweise durch erheblich mehr Lehrstellen. Es gilt: Je ärmer das Umfeld einer Schule ist, desto mehr Hilfestellungen bekommen sie“, erklärt Vaccaro.
Beispielsweise das Projekt „Fly“ ermöglicht es Eltern von Grundschüler:innen, ihre Kinder im Unterricht zu begleiten. So werden sie aktiv am Schulalltag ihrer Kinder beteiligt und können sich einen Einblick davon verschaffen, wie ihren Kindern in der Schule Lesen oder Schreiben lernen.
Sei es die sprachliche Förderung der Schüler:innen oder die außerschulischen Nachhilfestunden in den Kernfächern – die meisten Projekte, die das Amt für Bildung initiiert hat, zielen zwar darauf ab, einer Vielzahl von Schüler:innen gleichzeitig zu helfen, stärken jedoch im Kern die schulische Weiterentwicklung des Einzelnen. Wie fatal sich das Wegfallen dieser Angebote auf die Lernchancen der Schüler:innen auswirken kann, hat die Corona-Pandemie bewiesen:
“Es liegen zwar noch keine aktuellen und konkreten Daten beziehungsweise Studien vor, die verdeutlichen können, wie enorm die Auswirkung der Corona-Pandemie im Bereich der Bildung sind, aber nach meiner Einschätzung sind vor allem Kinder aus einkommensschwächeren Familien stärker daran beteiligt“, verdeutlicht Vaccaro die Auswirkung der Corona-Pandemie. Als die Corona-Zahlen immer mehr gestiegen sind, sodass Schulen geschlossen werden mussten, haben vor allem bei einkommensschwächeren Familien die Voraussetzungen für die Ermöglichung des Distanzunterrichts gefehlt, wie die technische Infrastruktur oder ein ruhiges Lernumfeld. Deswegen hat das Amt für Bildung versucht, diesen Kindern so schnell es geht wieder zu ermöglichen, in Präsenz an den Schulen unterrichtet zu werden. Laut Vaccaro sei es eine schwere Zeit für die Kinder gewesen: All die Förderprogramme konnten nur eingeschränkt stattfinden oder sind sogar komplett weggefallen. Dadurch werden die Lernrückstände immer größer. Auch der Abstand zu ihren Klassenkameraden habe sich nachteilig auf die sprachliche Entwicklung der Kinder ausgewirkt. Diese Ausfälle spitzen sich zu. Um den Lernrückständen entgegenzuwirken, wurden in Hamburg sogenannte Lernferien eingerichtet, in denen Schüler*innen während ihrer Ferien, Bildung angeboten wird.
Mit Hilfe des Programmes „Aufholen nach Corona” sollen die pandemiebedingt entstandenen Bildungslücken so schnell wie möglich wieder aufgeholt werden: Bei diesem Programm handelt es sich um Bundesgelder, die den Ländern zur Verfügung gestellt wurden, um diese in Maßnahmen zu investieren, die genau diese Lernlücken ebenen sollen. Das Bundesland Hamburg konnte dadurch nicht nur die Lernferien ermöglichen, sondern auch die Lernförderung aufstocken und durch neu geschaffenen Arbeitsplätze, mehr Kindern Nachhilfeangebote zur Verfügung stellen. Weitere Gelder sind in die Entwicklung einer Leseapp geflossen, durch die die Kinder digital und spielerisch das Lesen lernen.
Vaccaro ist der festen Überzeugung, dass eine gute schulische Laufbahn, der Weg aus der Armut sein kann:
„Nachdem die Schüler:innen ihre Schule beendet haben, ob mit oder ohne Abschluss, steht ihnen der große Schritt in das Arbeitsleben bevor: Auf dem Arbeitsmarkt wird ja nunmal klar aussortiert und schulische Leistungen beziehungsweise letztendlich ein Schulabschluss ist der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Und ohne Bildung ist es ja nunmal nicht möglich, diese Abschlüsse zu erreichen. Insofern ist Bildung der einzige Weg zu einem Abschluss und allein schon deswegen ist sie eine große Voraussetzung für den erfolgreichen Weg aus der Armut.“
Eric Vaccaro
Umso wichtiger sei es ihm als Vertreter des Amtes für Bildung, die Zeit in der die Schüler:innen schulpflichtig sind, bestmöglich zu nutzen. Denn sobald sie nicht mehr schulpflichtig sind, ist alles, was das Thema Bildung betrifft, freiwillig.
Beitragsbild: Eric Vaccaro